Kollaboratives Entwickeln über Kontinente hinweg
In den Büroräumen von MyLiveZone AG im bernischen Ipsach stehen viele Schränke nebeneinander. Hinter den Türen aus Glas sieht man verschieden grosse viereckige Kästchen, aus denen farbige Kabel hängen; viele kleine Lämpchen blinken.
Das hier ist ein Schulungscenter für verschiedene Industrieunternehmen. Statt Programmierer und Techniker in einem Raum zusammenzubringen und ihnen vor den aufgebauten Produkten zu erklären, wie sie damit umgehen müssen, machen die Firmen ihre Produkteschulungen und Produktpräsentationen von technischen Geräten von hier aus, komplett digital. «Unsere Kundinnen und Kunden aus der Industrie haben das Produkt irgendwo stehen. Diejenige Person, die damit arbeitet, ist woanders. Durch unsere Technologie können sie die Distanz dazwischen überbrücken», sagt Thomas Zürcher, Gründer und CEO von MyLiveZone AG.
«Wir haben mit unserem Projekt bewiesen, dass dezentral tätige Unternehmen die Entwicklung von Produkten mit Hard- und Softwareteilen schneller vorantreiben und somit mit ihren Produkten schneller auf den Markt gelangen können.»
Thomas Zürcher
Gründer und CEO von MyLiveZone AG
Innert Sekunden kann durch das Remote Center in Ipsach von überall her selbst auf die komplexesten Anlagen zugegriffen werden. «Unsere Kundinnen und Kunden müssen einen Raum nur einmal ausstatten und können ihn dann weltweit nutzen.» Zur Kundschaft von MyLiveZone gehören neben grossen Technologiekonzernen zum Beispiel auch Medizintechnikunternehmen: Personen, die ein Röntgengerät bedienen, mussten früher um die halbe Welt reisen, um am teuren Schulungsgerät zu lernen.
Wie wenn man neben dem Produkt sitzen würde
Durch einen Livestream können die Produkte und deren Umgebung in Echtzeit beobachtet werden. «Jede Person hat auch die Option, das Produkt mit dem Computer selbst zu bedienen. Sie kann programmieren, präsentieren oder live beobachten, was die Maschine macht. Und hat dadurch die gleichen Möglichkeiten, wie wenn sie neben dem Produkt am Tisch sitzen würde.»
MyLiveZone ging 2010 aus der Berner Fachhochschule hervor. Damals sei das Konzept von Remoteschulungen noch schwierig zu erklären gewesen, sagt Thomas Zürcher. Inzwischen muss sich ein Grossteil von Industrieunternehmen mit dem Thema Automatisierung und Robotik befassen. «Durch die Digitalisierung der industriellen Produktion brauchen Maschinen und Produkte immer mehr Elektronikkomponenten und -anlageteile, die eingesetzt werden müssen. Und dafür müssen Anwenderinnen und Anwender geschult werden.»
Unabhängig vom Standort und von Zeitzonen gemeinsam entwickeln
In einem internationalen Innosuisse-Projekt, das Ende 2022 abgeschlossen wurde, bewies das Berner KMU nun, dass man durch seine Technologie nicht nur live online schulen, sondern auch über Kontinente hinweg gemeinsam ein Produkt entwickeln kann. Im Projekt, das im Rahmen einer gemeinsamen Ausschreibung von Innosuisse und der brasilianischen Agentur EMBRAPII 2020 bewilligt wurde, konnten Fachkräfte aus der Schweiz und Brasilien über die Kontinente hinweg zusammen Software-Komponenten entwickeln, testen und sie erfolgreich in einen Hardware-Prototypen integrieren.
Von Schweizer Seite waren neben MyLiveZone der Forschungspartner Switzerland Innovation Park Biel und der Softwarespezialist cencerus AG mit Hauptsitz in der Urner Gemeinde Schattdorf involviert. Zusammen mit dem brasilianischen Umsetzungspartner Altus AG, einem Hersteller von Automatisierungskomponenten für die Industrie, bewiesen sie, dass kollaboratives Engineering über Zeitzonen hinweg effizient möglich ist. Und dass Fachwissen unkompliziert über Kontinente hinweg geteilt werden kann. «Die Fachkräfte in der Schweiz verschmolzen quasi mit den Fachkräften am Hauptsitz von Altus in Brasilien.»
Während der Entwicklung eines Produkts brauche es einen ständigen Abgleich zwischen den Hardware- und Software-Teams, sagt Thomas Zürcher. «Die beiden Entwicklungsteams stehen laufend im Kontakt, passen an, testen, geben Feedback etc. Das ist ein iterativer Prozess.» Softwareentwickler seien darauf angewiesen, gewisse Dinge an der Hardware direkt vorzunehmen. Die Hardwarelösung war am Firmensitz von Altus in Brasilien aufgebaut. Statt dass man das Produkt nun zwischen den Ländern hin- und herschickte, konnten die beiden Teams dank der innovativen Technologie von MyLiveZone online miteinander arbeiten.
Die Entwicklerteams in Brasilien und der Schweiz waren jeweils am Nachmittag Schweizer Zeit miteinander per Videomeeting in Kontakt, um Details zu besprechen und nächste Schritte zu planen. Den Rest des Tages konnten sie unabhängig voneinander am selben Produkt arbeiten. «Die Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Partner war angenehm und sehr wohlwollend.»
Eine Win-Win-Situation für alle
«Wir haben mit unserem Projekt bewiesen, dass dezentral tätige Unternehmen die Entwicklung von Produkten mit Hard- und Softwareteilen schneller vorantreiben und somit mit ihren Produkten schneller auf den Markt gelangen können», sagt der MyLiveZone-Geschäftsführer. «Sobald das Produkt serienreif ist, verfügen sie bereits über einen Online-Arbeitsplatz, an dem die Fachleute weltweit in virtuellen Klassenräumen geschult werden können (siehe unten).
Gerade auch in Zeiten von Lieferschwierigkeiten sei das kollaborative Engineering für Unternehmen wichtig und auch nachhaltiger, betont Thomas Zürcher. «Es braucht weniger Ressourcen, wenn man ein Produkt für mehrere Standorte nutzen kann und die Produkte nicht mehr hin- und herschicken muss. Auch eine aufwendige Personenlogistik fällt weg.»
«Für ein Unternehmen aus einem Schwellenland wie Brasilien ist die Kooperation mit der Schweiz attraktiv, da sie hier dank exzellenter Hochschulen wertvolle Fachkräfte sowie wirtschaftliche und politische Stabilität finden.»
Erweiterung des Geschäftsfelds
Die Arbeit im Projekt war auch für MyLiveZone ein Meilenstein. «Für uns war es wichtig, zu zeigen, dass es möglich ist, mit unserer Technologie über Kontinente hinweg Produkte zu entwickeln. Das öffnet uns neue Tore und einen neuen Fokus für unsere künftige Arbeit. Es gibt uns die Möglichkeit, dass wir mit unserem Service bereits bei der Entwicklung von Produkten dabei sein und Unterstützung bieten können. Bisher ging es vor allem um die Schulung zu neuen Produkten (siehe unten).
«Wir konnten ein anderes Businessfeld akquirieren und wir haben mit Altus einen attraktiven Kunden gewonnen. Das Projekt hat sich für uns sehr gelohnt – es hilft uns dabei, dass wir weltweites Vertrauen in unsere Services aufbauen können.»
Die interkontinentale Zusammenarbeit am Projekt sorgt schliesslich auch für eine Ansiedlung in der Schweiz: Der südamerikanische Altus-Konzern plant, demnächst im Swiss Innovation Park in Biel seine erste Niederlassung in Europa zu eröffnen und künftig einen Teil seiner Produkte aus der Schweiz heraus zu entwickeln, in einer kollaborativen Zusammenarbeit mit dem Hardware-Team in Brasilien.
«Die Zusammenarbeit mit den Forschungspartnern lohnt sich für uns bei der Entwicklung unserer Technologie sehr. Ich bin Innosuisse dankbar.»
Thomas Zürcher
Gründer und CEO von MyLiveZone AG
Ein Online-Agent hilft im Kampf gegen Fachkräftemangel
Das Remote Center von MyLiveZone in Ipsach ermöglicht auch digitalen Klassenunterricht. So können sich zum Beispiel zwölf Personen – im selben Raum oder auf der ganzen Welt verteilt – gleichzeitig ins Remote Center einwählen. Dort stehen dann 12 virtuelle Arbeitsplätze für sie bereit.
Bisher musste die Lehrperson weiterhin von Hand Lernunterlagen/Anleitungen für die Kursteilnehmenden erstellen. Während der Schulung verbrachte sie einen Grossteil der Zeit damit, von Schulungsplatz zu Schulungsplatz zu gehen und der jeweiligen Person zu zeigen, wohin auf ihrem Bildschirm sie als nächstes klicken soll.
In einem 2021 abgeschlossenen Innosuisse-Projekt entwickelte MyLiveZone zusammen mit dem Switzerland Innovation Park Biel einen Agenten. Diesem digitalen Assistenten zeigt die Lehrperson vor dem Kurs einmal, wie man sich durch das entsprechende Software-Programm des Produkts klicken muss. Während des Klickens werden automatisch die Schulungsunterlagen erstellt. In diesen kann die Lehrperson zusätzlich ihre Gedanken zu einzelnen Schritten erfassen.
Eine völlig neue Art des Unterrichts für Trainer und Trainee
Die Kursteilnehmenden können nachher in ihrer Geschwindigkeit durchklicken: Auf ihrem Bildschirm wird angezeigt, wo sie klicken oder was sie wohin ziehen müssen – inklusive Erklärung, was der einzelne Schritt bewirkt respektive auslöst. So kann jede und jeder in ihrer bzw. seiner Geschwindigkeit lernen, niemand wird abgehängt. «Das ist eine völlig neue Art des Lernens.»
Dies funktioniert bei allen Bildschirmanordnungen und -grössen: Der Agent sucht via Bilderkennung, wo das nächste Icon ist, das als Nächstes angeklickt werden muss – denn die Oberfläche ist auf jedem Bildschirm anders angeordnet. Das, was die Lehrperson sonst jeweils bei jeder und jedem Einzelnen tun muss und was Ressourcen bindet.
Folgeprojekt: Zertifizieren von Fachkräften unterstützt durch künstliche Intelligenz
Das zweite Innovationsprojekt, das im Frühjahr 2023 abgeschlossen wurde, baut auf den Erkenntnissen des ersten Projekts auf. Umgekehrt soll der Agent nun erkennen, was die oder der Trainee während der Schulung macht und dies mit den Lösungswegen vergleichen, die im Vorfeld aufgezeichnet wurden. «Durch die Aufzeichnung kann die Lehrperson virtuell hinter den Anwenderinnen und Anwendern stehen und bei Bedarf eine bestimmte Sequenz genauer prüfen.»
Dies gibt den Expertinnen und Experten einen Einblick, wie die Schülerin oder der Schüler zur Lösung kommt respektive wie sie oder er die Software nutzt. Es geht aber nicht nur über die Beurteilung «falsch oder richtig», vielleicht hat sie oder er ja auch einen effizienteren Weg gewählt als die Lehrperson oder eine bestimmte Sequenz war trotz falschem Ergebnis besonders clever.
Fairere Bewertung von Prüfungen
Die Beurteilung des Lösungswegs führt dazu, dass die Bewertung von Prüfungen fairer wird, sagt Thomas Zürcher. «Ich habe selbst über 20 Jahre lang Programmierende unterrichtet und konnte nicht immer fair bewerten. Als Lehrer kann man nicht in jede einzelne Zeile reingehen, wenn jemand drei Stunden am Stück programmiert. Jetzt sieht die Expertin oder der Experte, in welchem Schritt noch etwas fehlt. Das ist ein wichtiges Feedback an Lernende.»
Durch die Weiterentwicklung des Agenten kann die in der Industrie sehr wichtige Zertifizierung von Fachkräften künftig gleich während des praktischen Lernens erfolgen – ein weiterer Vorteil in Zeiten von Fachkräftemangel.
Unterstützung durch Innosuisse
- 1 internationales Innovationsprojekt mit Brasilien
- 2 Schweizer Innovationsprojekte
- Mentoring
- Innovationsscheck