Wie man mit der Digitalisierung in der Industrie sinnvoll umgehen kann
Der Bereich Produktionsmanagement am Institut für Technologiemanagement der Universität St. Gallen (HSG) hat zusammen mit dem Institut für Computational Life Sciences der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) eine Methode entwickelt, mit der sich digitale Geschäftsmodelle simulieren und vergleichen lassen. Das Software-TooI hilft Schweizer und Liechtensteiner Industriebetrieben und ihrer Kundschaft, sich in der Komplexität von nutzungs- und ergebnisbasierten Preismodellen zurechtzufinden, sagt Jonathan Rösler von der Universität St. Gallen (HSG).
Jonathan Rösler
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Postdoc an der HSG, war einer der Hauptträger des Projekts unter der Leitung von Professor Thomas Friedli. Jonathan Rösler hat zum Projekt seine Doktorarbeit verfasst.
Früher konnten Hersteller von Maschinen und Anlagen einfach ihre Produkte verkaufen und danach vielleicht noch Ersatzteil-, Reparatur- und Wartungsservices anbieten. Warum reicht das heutzutage nicht mehr?
Jonathan Rösler: Die Nachfrage nach Hardware-Produkten in der Maschinenindustrie ist sehr schwankend und das Wettbewerbsumfeld ist in den vergangenen Jahren spürbar intensiver geworden. Anbieter versuchen deshalb seit Längerem, mehr Service- und Softwarelösungen anzubieten, um Margen zu stabilisieren, Wettbewerbsanteile zu sichern und ihre Erlöse resilienter zu machen.
Die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen steht seit Jahren im Fokus vieler Unternehmen, doch bislang gelingt es nur unzureichend, wirklich neue, «digitale Geschäftsmodelle» erfolgreich zu entwickeln und umzusetzen. Viele Industrieunternehmen scheitern an der Frage, wie man aus den neuen Möglichkeiten des Internets der Dinge ein den Kunden überzeugendes Geschäftsmodell strickt. Sie verkaufen nach wie vor einzelne Dienstleistungen und Softwareprodukte in Einmalverkaufsmodellen. Da haben wir mit unserem Projekt angesetzt.
Ein derzeit intensiv diskutiertes Geschäftsmodell ist es, dass Anbieter Maschinen und damit verbundene klassische Services wie Reparaturen, Ersatzteile oder Wartungen mit digitalen Dienstleistungen kombinieren und als Gesamtpaket verkaufen. Die Kundinnen und Kunden sollen nicht nur einmal bezahlen, sondern kontinuierlich im Abo-Modell, z. B. je nach Stunden, die sie die Maschinen nutzen oder für Daten, die durch die Nutzung einer Anlage generiert werden. Derartige Modelle standen im Fokus des Projektes.
Wie hat Ihre Forschungsstätte, die HSG, den Unternehmen geholfen?
Unsere Rolle bestand darin, für jeden einzelnen Projektpartner herauszufinden, welche Maschine aus seinem bestehenden Angebot die richtige ist, um das individuelle Geschäftsmodell künftig umzusetzen: Ist es die Maschine, die sich schlecht verkauft oder nehmen wir diejenige mit grossem Absatz? Also die Frage: Sucht man für ein neues Angebot neue Kundinnen und Kunden oder soll man die bestehende Kundschaft «umerziehen», sodass sie die neuen Services nutzen, statt die Maschine wie bisher zu kaufen?
Konkret haben wir das Portfolio, die Kundenbedürfnisse und die organisatorischen Fähigkeiten von sieben Schweizer und eines Liechtensteiner Maschinen- und Anlagenbauers analysiert und in gemeinsamen Workshops über die gesamte Projektlaufzeit verschiedene Geschäftsmodell-Ideen entwickelt und bis hin zur Marktreife geführt. Das umfasst nicht nur die Frage nach dem Wertversprechen solcher Modelle für die Kundschaft oder wie viel die einzelnen Leistungen kosten sollen. Es ging auch um Fragen der Vertragsgestaltung, der Bilanzierung und der Leistungserbringung in den verschiedenen Märkten, sei es in Europa, den Vereinigten Staaten oder Asien.
Auch eine wichtige Frage, die wir uns im Projekt stellen mussten: Wie finanziert man das Geschäftsmodell? Das war vor allem bei kleinen traditionellen Unternehmen wie Agathon ein grosses Thema. Die HSG hat schon viel über Trends in der Finanzindustrie geforscht. Die Maschinenhersteller hatten bisher wenig mit internationalen Absatzmärkten zu tun. Wir sprachen mit verschiedenen Finanzdienstleistern – mit dem Resultat, dass sie einzelnen Firmen nun Maschinen abkaufen (siehe Use-Case weiter unten).
Trotz der unterschiedlichen Produkte und Umsatzvolumina der Hersteller waren die Herausforderungen der beteiligten Projektpartner sehr ähnlich. Interessant war, dass technologische Fragen oft eine eher untergeordnete Rolle spielten.
Was wurde im Rahmen des Projekts konkret entwickelt?
Zusammen mit der ZHAW entwickelten wir während der 18-monatigen Projektdauer für jedes Unternehmen ein separates Tool: Damit können die Unternehmen – und deren Kundinnen und Kunden – abschätzen, was es für sie bedeutet, wenn die Anbieter nicht wie bisher das Produkt als solches verkaufen, sondern eine Komplettlösung. Sowohl für Anbieter als auch für Kunden haben wir damit wichtige Fragen in Hinblick auf inhärente Risiken, Opportunitäten und die Wirtschaftlichkeit derartiger Geschäftsmodelle beantworten können. In der Praxis kann das Tool zudem als Konfigurator eingesetzt werden, um mit Kunden individuelle Verträge zu definieren.
«Es ist uns gelungen, verschiedene Industrien und Unternehmen mit unterschiedlichen digitalen Vorkenntnissen miteinander zu vernetzen und sie digital fitter zu machen. Jede dieser Firmen hatte unterschiedliche Erfahrungen, aber alle sprachen dieselbe Sprache und konnten voneinander lernen.»
Jonathan Rösler
Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HSG
Haben die neuen Geschäftsmodelle auch über die einzelnen Unternehmen hinaus Vorteile?
Die neue Denkweise ist nachhaltiger: Dadurch kommt die Industrie weg vom Verkauf von möglichst günstigen, oft aber weniger produktiven Maschinen mit kurzer Lebensdauer. Man versucht, die technisch beste und langfristig wirtschaftlichste und nachhaltigste Lösung zu verkaufen und kontinuierlich Upgrades und Verbesserungen zu implementieren. Gleichzeitig soll die Eintrittsschwelle für die einzelnen Kundinnen und Kunden gesenkt werden, indem die Einmalzahlung für die Anschaffung der Hardware reduziert wird. Die Grundidee dahinter: Die Kundschaft soll langfristig gesehen nicht mehr bezahlen, hat aber ein besseres Produkt und produziert nachhaltiger.
Was waren die Knacknüsse im Projekt?
Nicht alle Unternehmen aus dem Projekt hatten es bei Projektende geschafft, ein Produkt auf den Markt zu bringen, und nicht alle konnten die notwendige Verhaltensänderung bei ihrer Kundschaft herbeiführen. Der Wandel in der Branche kommt langsamer als gedacht. Die Unternehmen, die im Projekt mitmachten, sind jetzt bereits weiter als die aktuelle Entwicklung in der Branche. Sie haben damit die Grundlage für eine nachhaltige Differenzierung geschaffen. Das Projekt hat die ausserordentlichen Potenziale einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Thema gezeigt. Es wurde aber auch klar, dass die Herausforderungen auf der Ebene Management und Strategie grösser sind als diejenigen auf der technologischen Ebene.
Dennoch sagen Sie, das Projekt war ein grosser Erfolg. Weshalb?
Es gelang uns, verschiedene Industrien und Unternehmen mit unterschiedlichen digitalen Vorkenntnissen miteinander zu vernetzen und sie digital fitter zu machen. Jede dieser Firmen hatte unterschiedliche Erfahrungen, aber alle sprachen dieselbe Sprache und konnten voneinander lernen.
Das Projekt ist eines der besten Beispiele dafür, welchen Mehrwert ein Innosuisse-Projekt durch die unterschiedlichen Akteure, die am Projekt beteiligt waren, haben kann. Die Kombination aus jungen Doktorierenden, erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, gestandenen Managerinnen und Managern aus der Industrie und Unternehmensberaterinnen und -beratern, die das Projekt begleiteten, wurde von allen Beteiligten als äusserst bereichernd empfunden.
Die Projektdauer von 18 Monaten gab uns genug Zeit, um uns mit dem Thema eingehend zu beschäftigen und nachhaltige, für die beteiligten Unternehmen anwendbare Lösungen zu entwickeln. Gerade für KMU ist es normalerweise schwer, sich so viel Zeit für die Entwicklung zu nehmen und solche strategischen Themen voranzubringen. Da kam ihnen unser Projekt und die Förderung durch die Innosuisse sehr gelegen.
Das Schöne ist: Wir werden die Zusammenarbeit mit den Unternehmen und der ZHAW fortsetzen. Darüber hinaus werden auch andere Unternehmen von unserer Arbeit profitieren: Wir stellen die Erkenntnisse bei verschiedenen Gelegenheiten vor und tauschen uns mit anderen Unternehmen über die gemachten Erfahrungen aus.
«Viele Unternehmen tun sich schwer, komplexe Zusammenhänge zu simulieren und darzustellen. In unserem Projekt haben wir vortrefflich mit den Unternehmen und der HSG zusammengearbeitet und gemeinsam ein Tool entwickelt, das komplexe Geschäftsmodelle und deren Implikationen für Anbieter und Kunden einfach darstellt und erfahren lässt. Die Zusammenarbeit mit Innosuisse während des gesamten Projektes war sehr unkompliziert und pragmatisch.»
Lukas Hollenstein
Leiter Abteilung Simulation & Optimization, Institute of Computational Life Sciences ZHAW
Use-Case Agathon: Hochpräzise Schleifmaschinen im Monatsabo
Für die Agathon AG bricht ein neues Zeitalter an: «Agathon goes digital» steht in grossen Buchstaben auf der Website. Bis 2027 möchte die Schweizer Herstellerin von hochpräzisen Schleif- und Laserbearbeitungsmaschinen eine Verdopplung ihres Service-Umsatzes erreichen. Dafür setzt Agathon vor allem auf neue digitale Angebote wie Abo-Modelle, Zugriffe auf intelligente Schnittstellen für MES-Systeme (Steuerungssysteme im operativen Produktionsmanagement) oder ein nutzungsbasiertes Preismodell (Pay-per-Use), bei dem Maschinen nicht gekauft, sondern gegen eine Gebühr bereitgestellt und gewartet werden (Equipment-as-a-Service).
Die digitale Transformation ist in vielen produzierenden Industrien noch Neuland, wie Agathon-Vertriebsleiter Daniel Felber betont (siehe auch Artikel hier). Das über 100-jährige KMU Agathon mit knapp 250 Mitarbeitenden am Hauptsitz im solothurnischen Bellach ist Weltmarktführer im Bereich Schleif- und Laserbearbeitungsmaschinen zur Bearbeitung von Wendeschneidplatten. Seine Kundschaft – darunter kleine bis grosse Werkzeughersteller für die zerspanende Fertigungsindustrie – produziert hauptsächlich in Europa, aber auch in Asien und Nordamerika. «Wir bewegen uns in einer Nische einer Nische», sagt Thomas Hess, der bei Agathon für die After Sales Services verantwortlich ist.
Die After Sales Services – also Dienstleistungen wie Kundendienst, Ersatzteildienste, Revisionen oder verschiedene Schulungen, die nach dem Verkauf einer Maschine ins Spiel kommen – werden für KMU immer wichtiger. Neben den klassischen Services bietet Agathon zunehmend digitale Dienstleistungen. «Unsere Kundschaft nutzt zunehmend professionelle MES-Systeme, kämpft aber auch mit Personalmangel an der Basis. Da braucht es Anpassungen an den klassischen Serviceblöcken, oder diese müssen durch Alternativen abgelöst werden», sagt Thomas Hess.
Bisher fehlte ein systematisches Geschäftsmodell
«In den vergangenen Jahren haben wir unseren Kundinnen und Kunden viele digitale und nicht digitale Services angeboten, aber zu wenig systematisch», sagt Felber. Das Innosuisse-Projekt für die Entwicklung eines digitalen Geschäftsmodells kam daher wie gerufen.
Wichtige Themen für Agathon bei der Entwicklung eines digitalen Geschäftsmodells waren die Positionierung und die Preisfindung. Zum Beispiel für den Teleservice. «Wir bieten seit über zehn Jahren kostenlos eine Fernwartung an. Warum sollen die Kunden nun für etwas zahlen, das früher gratis war? Wir haben eine Lösung gefunden: Der Service kostet zwar nun, bietet unseren Kunden aber auch einen Mehrwert wie verlängerte Geschäftszeiten oder eine Priorisierung bei der Abarbeitung.»
«Es war für uns sehr hilfreich, uns mit anderen Firmen und Industrien auszutauschen und uns von ihnen inspirieren zu lassen. Zudem ist es auch immer interessant zu sehen, wo wir im Branchenvergleich stehen.»
Daniel Felber
Vertriebsleiter bei Agathon
Pay-per-Use: Maschinen nur für die Nutzung zahlen
«Das Pay-per-Use-Modell, das wir im Projekt gemeinsam erarbeitet haben, ist ein grosser Meilenstein», sagt Daniel Felber. Mit diesem Modell kaufen die Kundinnen und Kunden die Maschinen nicht mehr. Sie bezahlen nur noch für die Stunden, die sie an der Maschine produzieren – mit einem gewissen Risikozuschlag für Über- oder Unterproduktion, ähnlich einer Versicherung. «Die Kundschaft verlagert dadurch ihre Investitionskosten in operative Kosten, das heisst sie hat mehr Geld, um zu investieren, und federt zudem das Risiko bei Unterlast ab.»
Gerade auch für kleinere Firmen ist das Modell attraktiv. Die heikle Anlaufphase der Produktion bei neuen Erzeugnissen, in der noch nicht in mehreren Schichten produziert wird, ist dadurch mit weniger Risiken verbunden. Statt eine Maschine zu kaufen, kann die Kundschaft die Maschine nun auslastungsgerecht nutzen. Dafür arbeitet Agathon neu mit Finanzdienstleistern zusammen. «Statt dem Kunden verkaufen wir eine Maschine nun dem Finanzdienstleister. Dieser verkauft dann die Maschine als Pay-per-Use-Modell dem Kunden. Bezahlt werden nur Stunden, die er nutzt. Und wir haben trotzdem eine Maschine verkauft.»
Der Simulator hilft bei der Beratung der Kundschaft
Pay-per-Use ist ein komplexes Modell, das man in der Branche noch wenig kennt. Bei der Beratung hilft nun vor allem der Konfigurator, den die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Rahmen des Projekts entwickelt hat. Er zeigt Interessierten, ob sich ein Kauf einer Maschine, ein Leasing oder doch eher ein Pay-per-Use-Modell lohnt. «Die Kundinnen und Kunden sehen schnell und verständlich visualisiert, ob das für sie ein rentables Geschäftsmodell ist oder nicht.» Dies sei gerade auch für 2023 wichtig, welches für die Produktionsindustrie ein finanziell «undurchsichtiges» Jahr wird, betont Felber.
Beide zeigen sich begeistert vom Innosuisse-Projekt, das sie mit der HSG und der ZHAW sowie sieben anderen Unternehmen durchgeführt haben. «Es war für uns sehr hilfreich, uns mit anderen Firmen und Industrien auszutauschen und uns von ihnen inspirieren zu lassen. Zudem ist es auch immer interessant zu sehen, wo wir im Branchenvergleich stehen.»
Unterstützung durch Innosuisse
- Innovationsprojekt mit mehreren Umsetzungspartnern
- 2 laufende Innovationsprojekte: 1 mit der Berner Fachhochschule, 1 mit der Ostschweizer Fachhochschule und der Universität St.Gallen
- Mentoring
- Innovationsscheck